„ALLE SOLLTEN IN DER STADT GUT LEBEN KÖNNEN.“

Klimawandel, Leerstand und Wohnungsnot – mit diesen Themen müssen wir uns auseinandersetzen, damit Städte auch in der Zukunft lebenswert bleiben. Für kreative Lösungsansätze braucht es aber nicht nur die Ideen der nächsten Generation, meint die Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger. Im Interview spricht sie darüber, an welchen Stellen sich urbane Strukturen grundlegend verändern müssen und wo ihre Heimatstadt München schon vorbildlich ist.

Du bist in München geboren, in Österreich aufgewachsen und lebst nun wieder in München. Warum bevorzugst du das Stadtleben und was verbindet dich mit München? 

Ich war 18, als ich für das Studium zurück nach München gezogen bin. Das ist damals eine pragmatische Entscheidung gewesen: Ich hatte einen Studienplatz in der Stadt und viele Freund:innen hier. In den folgenden Jahren war ich aber in vielen unterschiedlichen europäischen Metropolen zu Hause: in Wien, in Kopenhagen, in Zürich, zusätzliche wochenlange Aufenthalte in London und in Paris. Als ich 2013 mein Studium an der Filmhochschule begonnen habe, bin ich dann final zurück nach München gezogen. Ich lebe also nun seit zehn Jahren hier. Phasenweise arbeite ich natürlich an Projekten in anderen Städten, grundsätzlich aber ist hier meine Homebase. Da ich berufsbedingt stark von einer kulturellen Infrastruktur abhängig bin, lebe ich lieber mittendrin als auf dem Land. Der Austausch mit anderen kulturschaffenden Personen ist für mich extrem wichtig – sowohl privat als auch geschäftlich. Außerdem liebe ich es, alle kulturellen Angebote der Stadt zu nutzen. Mindestens zwei Mal die Woche gehe ich ins Kino. Ich bin sehr viel draußen und unterwegs.  

In der Stadt kommen einfach die verschiedensten Menschen zusammen, ich profitiere von einem vielfältigen Netzwerk aus kreativschaffenden Personen.

Wie gestaltet die nächste Generation die Stadt der Zukunft? Darüber diskutierte Jovana Reisinger im Rahmen der IAA bei einer Veranstaltung von The Sooner Now im MINI Pavillon in München. Dürfte sie sich etwas wünschen, dann wäre das eine sozialere, solidarischere und gerechtere Infrastruktur.

Zweifelsohne bietet die Stadt kreativen Menschen Inspiration. Würdest du sagen, die Essenz, die den Zeitgeist prägt, findet überwiegend im urbanen Raum statt und braucht diesen als Nährboden?  

Grundsätzlich kommt es vor allem auf die Kunstform und die Sparte an, es lässt sich also nicht pauschalisieren. Für mich persönlich kann ich aber sagen, dass mich der urbane Raum sehr prägt, was meine Arbeit betrifft. In der Stadt kommen einfach die verschiedensten Menschen zusammen, ich profitiere von einem vielfältigen Netzwerk aus kreativschaffenden Personen. Vom Zusammensein mit diesen und dem Austausch untereinander.  

Das Leben in der Stadt bietet also viele Vorteile, was aber sind die Nachteile?  

München ist eine Stadt, in der viele wohlhabende Menschen leben. Die Kaufkraft ist groß, an vielen Orten wird konsumiert. Welche Plätze aber lassen sich überhaupt noch ohne jeglichen Konsumzwang nutzen? Von Menschen mit wenig Geld – egal ob jung oder alt. Welche Orte sind so schön, dass man sich gerne an ihnen aufhält, aber nicht gezwungen ist, irgendein gastronomisches Angebot in Anspruch zu nehmen? Wenn man genau hinschaut, dann bleibt da nicht mehr so viel übrig.  

Neben Reisinger nahmen Lukas Hoffmann (Mitte), Creator und Gründer, und Luis Niederbuchner (rechts), Designstudent, an der Podiumsdiskussion teil und sprachen darüber, welche Herausforderungen mit dem Leben im urbanen Umfeld einhergehen und wie sich diese meistern lassen könnten.

Die Stadt sollte also menschenfreundlicher werden?

  Ja, das sollte sie. Dieser Aspekt hat viele Facetten, natürlich nicht nur den Konsum. Schauen wir uns zum Beispiel die urbane Architektur an. Warum gibt es so wenige Trinkwasserbrunnen? Oder nicht mehr Sanitäranlagen und Waschräume im öffentlichen Raum, die für alle zugänglich sind? Vor allem für obdachlose Personen. Es sind so viele Faktoren, die dazu beitragen könnten, eine Stadt menschenfreundlicher zu gestalten. Was ist zum Beispiel mit der Tatsache, dass Städte aufgrund des Klimawandels immer heißer werden? Was braucht es, um sie abzukühlen? Begrünte Dächer, vertikale Gärten? Ich wünsche mir kluge Ideen, um die Natur wieder stärker in die Städte zu integrieren. Eines der größten Probleme ist aber, dass es nicht genug bezahlbaren Wohn- und Arbeitsraum gibt. Durch die Besserverdiener:innen gibt es hier in München ein großes finanzielles Potenzial, eine starke Gewinnorientierung. Das ist schade, denn darüber wird vergessen, dass ein soziales Zusammenleben anders funktionieren muss. 

Wie könnte es denn anders funktionieren, und was kann man vielleicht anders machen, damit es vor allem für die nächsten Generationen besser wird? 

Es braucht eine sozialgerechtere Wohn- und auch Arbeitsstruktur. Das ist in München ein Thema, seit ich denken kann, und ich bin mir sicher, dass es auch die nächsten Generationen umtreiben wird. Alle sollten gut in der Stadt leben können, nicht nur diejenigen, die viel Geld haben. Künstler:innen und kreativschaffende Personen benötigen bezahlbare Ateliers und Büros. Die Stadt darf nicht betrauern, dass Künstler:innen wegziehen, wenn sie hier keine Arbeitsgrundlagen für sie schaffen. Gleichzeitig gibt es aber Stipendien und viele Unterstützungsangebote. Es ist toll, dass Geld in kulturelle Förderung investiert wird. Aber es bringt nichts, wenn Wohn- und Arbeitsraum für Künstler:innen nicht finanzierbar ist.  

Du thematisierst viele Dinge, die eigentlich alle großen Städte oder urbanen Ballungsgebiete beschäftigen. Da schleicht sich das Gefühl ein, es gibt so viel zu tun, aber alle lehnen sich zurück. Wie könnte man erreichen, dass alle an einem Strang ziehen? 

Das ist total schwierig. Ich liebe das Leben in der Stadt so sehr, weil es so viele Vorteile bietet. Aber wir alle sehen ja auch die Probleme, die das Leben in Metropolen so mit sich bringt. Gefühlt gibt es keine richtige Lösung. Denn da sind so viele Dinge, wo angepackt werden muss. Dafür brauchen wir nicht nur die nächste Generation mit neuen Ideen, sondern auch die Älteren. Du kannst ja als junger Mensch nicht einfach so daherkommen und sagen: „So, ich möchte jetzt Wohnraum für alle und einen freien ÖPNV.“ Die jungen Leute benötigen die Unterstützung der Älteren, die einflussreiche Positionen haben und Türen öffnen können. Die dürfen sich nicht zurücklehnen und die Verantwortung an jüngere Generationen abgeben. Sie müssen zuhören, ihren Einfluss nutzen und so Wandel provozieren.  

Und genau das ist ja so schwierig: sich Gehör zu verschaffen. Denkst du, für die nächste Generation ist es schwieriger geworden in den Städten zu leben?  

Klimawandel, Leerstand, Inflation – die nächste Generation muss sich mit so vielen verschiedenen Themen auseinandersetzen. Ich empfinde es manchmal fast schon wie ein Ausgeliefertsein, weil gefühlt gegen so viele Dinge angekämpft werden muss. Wir sind alle so sehr damit beschäftigt, in einer kapitalistischen Struktur gut zu leben, zu überleben. Es gibt so viele von uns, die auf den Klimawandel aufmerksam machen. Die sich auf Demos für lebenswertere Städte einsetzen. Die Ideen entwickeln, wie sich leerstehende Immobilien umnutzen lassen. Das ist überfordernd, es macht aber Mut zu sehen, dass es schon so viele gute Ideen gibt.  

 Jovana Reisinger

Klimawandel, Leerstand, Inflation – die nächste Generation muss sich mit so vielen verschiedenen Themen auseinandersetzen.

Die Filmemacherin und Autorin Jovana Reisinger liebt es, in München zu leben. Sie findet, die Stadt braucht mehr menschfreundliche Orte, an denen sich die Bürger:innen begegnen können.

Zum Beispiel?   

Freund:innen von mir haben in der Halle 23, einem ehemaligen Gebäude der Stadtentwässerung, das „Zirka“ eröffnet, das Zentrum für interdisziplinäre Raum- und Kulturarbeit. Verschiedene Künstler:innen haben dort ihre Ateliers und Studios, das Community Radio „Radio 80000“ sendet von dort aus. Entstanden ist ein Kreativquartier, das verschiedene kreativschaffende Personen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenbringt. Von Orten wie diesen brauchen wir in München mehr.  

Was macht München außerdem gut? Du hattest erwähnt, du wünschst Dir kluge Ideen, um die Natur in die Stadt zurückzuholen …  

 Ein vorbildhafter Ort dafür ist für mich die Isar. München hat die Renaturierung der Isar wirklich exzeptionell hinbekommen. Ein sauberes städtisches Gewässer, in dem die Menschen mitten in der Stadt schwimmen können, steigert die Lebensqualität enorm. Dieser kilometerlange Abschnitt ist davon geprägt, dass hier viele verschiedene Menschen zusammen eine gute Zeit verbringen. Die Isar ist frei von Konsumangeboten und Zwängen. Man kann einfach hingehen, sie nutzen, und sie kostet keinen Eintritt. Sie bietet Platz für sozialen Austausch und interkulturelle Kommunikation. Denn die Stadt benötigt Diversität und Vielfalt, damit sie lebens- und liebenswert ist. Und die Isar ist so ein Ort, der das möglich macht. Einfach eine Oase in der Stadt.    

Autor: Ricarda Twellmann
Fotos: Sophie Wanninger (Portraits) & Nadine Stegemann (Event-Fotos)
Styling: Jovana Reisinger

geboren 1989, ist eine deutsche Schriftstellerin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Sie studierte Drehbuch und Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Reisinger hat diverse Kurzfilme gedreht, die auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt worden sind. Außerdem hat sie drei Romane veröffentlicht: „Still halten“ (2017), „Spitzenreiterinnen“ (2021) und „Enjoy Schatz“ (2022). Als Kolumnistin schreibt sie für die deutsche Vogue und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.