Design kann die Gesellschaft verändern Design kann die Gesellschaft verändern
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Design kann die Gesellschaft verändern

„Wir entwerfen Dinge, die es so wahrscheinlich – oder hoffentlich – nie geben wird“, sagen Cedric Flazinski und Régis Lemberthe, wenn man sie nach ihrer Arbeit fragt.

Auch sieben Jahre nach Gründung ihres Studios N O R M A L S tun sich die beiden Franzosen schwer, ihre Herangehensweise in einfache Worte zu fassen. „Wir nutzen Design und Fiktion, um über die Zukunft zu spekulieren“, bemüht sich Flazinski und lehnt sich in einem auffällig kleinen Stuhl zurück. Der Stuhl sei eigentlich für Schulkinder gemacht, erklärt er schnell. Der französische Metallbauer und Architekt Jean Prouvé entwarf die dazugehörige Kollektion nach dem Zweiten Weltkrieg für die Schulen Frankreichs: „Er war ein fantastischer Generalist, der zwischen Industrie und Gesellschaft vermittelte. Wir arbeiten zwar rein spekulativ, aber im Grunde wollen wir genau das gleiche.“

Zunächst erscheint Normals’ Welt fantastischer Objekte weit entfernt von Prouvés Dienst an der Gesellschaft. Sie entwerfen Geburtsmaschinen für eine „himmlische“ Entbindung im eigenen Heim oder Nahrungsmitteldrucker, die ihre Nutzer je nach Bedarf immer optimal versorgen. Die gesellschaftliche Relevanz erkennt man erst auf den zweiten Blick: Jedes ihrer Designobjekte erzählt von einer möglichen Zukunft – und hinterfragt diese spitz.

Ihre Lust am Fantastischen entdeckten Cedric Flazinski und Régis Lemberthe während eines Masterstudiums in den Niederlanden. Kurz nach ihren Abschlüssen in Industriedesign an der Pariser École des Arts Appliqués liefen sich die beiden an der Design Academy Eindhoven wieder über den Weg. „Das war so in den späten 2000er-Jahren. Das erste iPhone war gerade auf den Markt gekommen, soziale Netzwerke wie Facebook wurden langsam populär und neue Technologien stellten die Rolle des Designers auf den Kopf“, erinnert sich Flazinski. „Statt uns marktgerecht in einer der vielen neuen Disziplinen zu spezialisieren, haben wir uns eher als Generalisten verstanden. Wir wollten Design als freie und kritische Arbeit ausüben, die alles berührt. Der spekulative Ansatz erlaubt uns dabei, Grenzen zu testen und gesellschaftliche Vorgänge zu kommentieren.“

Als Flanzinski 2012 das Studio gemeinsam mit dem französischen Autoren Aurélien Michon gründete (Lemberthe kam später hinzu), war an Auftragsarbeiten an der Schnittstelle von Design und Fiktion nicht zu denken. „Also haben wir unsere Jobs gekündigt und all unsere Ersparnisse in ein kleines Pariser Studio gesteckt, in dem wir günstig wohnen und ungestört arbeiten konnten.“ Dort entstanden experimentelle Graphic Novels, Kartenspiele, Musikvideos und Applikationen.

Auf die rudimentäre, von frühen Computern inspirierte Bildsprache schwören Normals bis heute und einen Kern ihrer Arbeit beschreibt Lemberthe so: „Wir fragen uns dagegen, wie eine vermeintlich normale Zukunft aussehen kann und malen sie uns in alltäglichen Seltsamkeiten aus.“ Das kann ein Küchentisch sein, der auf eine Fingergeste hin eine heiße Tasse Kaffee hervorzaubert. So zumindest beginnt Normals erste Graphic Novel N O R M A L S 0 0 1 aus dem Jahr 2013.

Die Tage der in Selbstausbeutung im Pariser Studio produzierten Zukunftsskizzen sind mittlerweile Vergangenheit. Heute teilen sich Flanzinski und Lemberthe ein Atelier in Berlin-Kreuzberg und „Design Fiction“ ist ein etablierter Begriff. In den letzten Jahren hätten sowohl private Unternehmen als auch öffentliche Institutionen erkannt, dass Innovation nicht unabhängig von Kultur und Gesellschaft gedacht werden kann. Jede Neuerung, ob Technologie oder Dienstleistung, verändert sich durch ihre Nutzer*innen in einer Art und Weise, die weder Ingenieure, noch Marketingabteilungen oder Umfragen vorhersehen können.

„Kunden beauftragen uns mit dem Entwurf spekulativer Szenarien, um mögliche gesellschaftlichen Fragen vorwegzunehmen“, erklärt Lemberthe. „Wie werden neue Dinge in Zukunft genutzt oder gar missbraucht? Wie schnell verbreiten sich neue Verhaltensmuster? Als Designer sind wir in der Lage, uns Probleme auszudenken, ihnen Namen und eine Form zu geben. In Geschichten durchgespielt, können diese dann Alternativen oder gar Lösungen aufzeigen.“

Lieben das Fantastische: Régis Lemberthe und Cedric Flazinski von Studio N O R M A L S

Im Dezember 2017 zum Beispiel, lud das Ideenlabor der Stadtverwaltung von Mexiko-Stadt, Laboratorio Para La Ciudad (LabCDMX), die beiden ein, um über den drohenden ökologischen Kollaps der Metropole nachzudenken. Auf dem trockenen Bett des Texcoco-Sees errichtet, leidet die wuchernde mexikanische Hauptstadt unter akuter Trinkwasserknappheit und sinkt zusehends in den schlammigen Untergrund. Experten sagen, eine Katastrophe ließe sich nur verhindern, wenn große Teile des ehemaligen Sees wieder hergestellt werden – trotz der dichten Bebauung und einer Bevölkerung von 21,3 Millionen Menschen.

Die ernste Realität verlangte ein radikales Gedankenspiel: Bei einem öffentlichen Themenabend vor Ort gaben sich Lemberthe und Flazinski als Sozialökonom (Rajesh Laghari) und Ingenieur (Otto Wavełski) aus. Sie fälschten Visitenkarten, richteten funktionierende E-Mail-Adressen und Webseiten ein. In ihrem Vortrag konfrontierten die beiden ein Publikum von ortsansässigen Architekt*innen, Stadtplaner*innen und Bürger*innen mit einem umfassenden Umsiedlungsprogramm, das laut Laghari und Wavełski schon in vollem Gange war. Ein Bezirk der Hauptstadt sei demnach kürzlich erfolgreich in die umliegenden Berge verlagert worden und Xochimilco, die unmittelbare Nachbarschaft der Anwesenden, sollte folgen.

Das Szenario war übertrieben bis ins letzte Detail: Digital-Milliardär und Tesla-Gründer Elon Musk hatte ein paar Space-X-Millionen in das Rettungsprojekt investiert, um für die Besiedlung des Mars zu proben. Ein neuer, von Wavełskis Team eigens entwickelter Roboter war im Umland unterwegs, um vollautomatisiert ganze Siedlungen aus einem Gemisch von Toxcoco-Lehm und Kies zu, ja, drucken. Umzugswillige könnten sich auf ein bedingungsloses Grundeinkommen freuen, ausgezahlt in der neu eingeführten, garantiert betrugssicheren Kryptowährung Mexicoin.

Reich bebildert mit Maschinen im Einsatz, fertigen Siedlungen in idyllischer Hanglage, Mexicoin-Marketingmaterial und Testimonials glücklicher Umsiedler hatte die Präsentation den gewünschten Effekt. „Publikumsreaktionen reichten von Protest bis hin zu sofortiger Umzugsbereitschaft“, erinnert sich Lemberthe. „Und nicht wenige Anwesende recherchierten uns nervös noch während des Vortrags.“ Erst nach einer emotionsgeladenen Fragerunde wurde die Fiktion als solche aufgelöst und mit dem Publikum im Rahmen eines Workshops erörtert.

Willkommen in CCCC.City: In dem vom Normals entwickelten Stadt-Spiel bauten die über 200 Besucher von The Sooner Now 2018 ihr eigenes urbanes Utopia.

Ausgerüstet mit Bausteinen, Stadtgrün und Spielfiguren, schufen Anwesende neben Eigenheimen in Traumlage auch gemeinschaftliche Großprojekte wie Krankenhäuser und Flughäfen.

Über Twitter konnten Spieler Mitstreiter für neue Großprojekte suchen. Die Anfragen wurden an den entsprechenden Koordinaten auf das Spielfeld projiziert.

Bei The Sooner Now 2018 im Berliner FvF Friends Space regten Normals mit einer ähnlichen Fiktion zum Denken an: Ein internationales Wirtschaftskonglomerat hat die ferne Insel Socotra gekauft, um dort mit ausgewählten Bürgern – den Besuchern von The Sooner Now – eine neue Stadt zu bauen. CCCC.City („Foresee City“, dt. Vorseh-Stadt) nannten Normals dieses Experiment.

„CCCC.City ist Rollenspiel, Brettspiel und soziales Experiment gleichermaßen. Das Ergebnis ist nicht vorherzusehen“, gesteht Flazinksi. Ausgerüstet mit Bausteinen und Spielfiguren handelten gut 200 Teilnehmer Formen städtischen Zusammenlebens aus – von Wohnkonzepten über Energieversorgung bis Verkehr. Neben exzentrischen Eigenheimen entstanden so auch gemeinschaftliche Mammutprojekte wie Krankenhäuser, Museen oder Flughäfen. Ausgeschmückt mit kleinen, von Teilnehmern ausgedachten Geschichten wuchs CCCC.City im Verlaufe eines Tages zu einer vielschichtigen Kollage urbaner Fantasien. „Der spielerische Ansatz lässt uns außerhalb von Konventionen denken und konkrete Wünsche äussern“, sagt Flazinski. „CCCC.City erinnert uns daran, dass die Stadt von Menschen gemacht wird. Und dass der erste Schritt in eine bessere Zukunft eine Idee von dieser ist.“

Weitere spannende Design-Utopien gibt es auf Normals’ Webseite. Dort findet ihr auch mehr Informationen zu ihrem Stadt-Spiel CCCC.City.

Text: Alexander Scholz
Fotographie: Robert Rieger