Der Gastraum mit der Küche im Zentrum fotografiert von oben.

Fine Dining im Industriegebiet.

Das Michelin-prämierte 100/200 kitchen gilt als eines der innovativsten Restaurants in Deutschland. Nicht nur aufgrund der außergewöhnlichen Menüs, sondern auch wegen seines nachhaltigen Konzepts, das die Betreiber konsequent durchziehen. Zu Gast bei Thomas Imbusch und Sophie Lehmann in Hamburg.

100/200 kitchen
Ein MINI parkt vor dem Eingang des 100/200 kitchen. Ein Stück Pastete liegt auf einem Teller. Getrocknete Kräuter, die zum Kochen verwendet werden, hängen im 100/200 kitchen von der Decke. Das Logo des 100/200 kitchen. Vom Gastraum aus haben die Gäste einen unverbauten Blick auf die Elbbrücken.

Ein Abend im 100/200 kitchen in Hamburg ist ein bisschen so wie ein Besuch einer verborgenen Welt. Der Weg dorthin führt durch ein Industriegebiet, fernab der lebhaften Viertel der Hansestadt. Wer ins Restaurant gelangen möchte, muss erst einmal klingeln. Nachdem die Tür sich summend öffnet, geht es mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Dort angelangt, nimmt das Personal die Gäste freundlich in Empfang und hängt die Garderobe in einem schmalen Flur auf. Beim Betreten des loftähnlichen, gedimmt beleuchteten Gastraums stechen zwei Dinge direkt ins Auge: die offene Küche als mittendrin platziertes Herzstück und der unverbaute Blick auf die Hamburger Elbbrücken. Die Gäste nehmen an langen, aus Holzstämmen gefertigten Tafeln Platz, das geschäftige Treiben in der Küche stets im Hintergrund.

Es ist natürlich nicht nur die außergewöhnliche Atmosphäre, die das 100/200 kitchen ausmacht, sondern auch sein besonderes Konzept. Dieses haben die Inhaber Thomas Imbusch und Sophie Lehmann mit Liebe zum Detail gestaltet und stetig weiterentwickelt. Grundsätzlich gilt: Gegessen wird das, was auf den Tisch kommt. Die Komposition des Menüs ist eine Überraschung und orientiert sich an dem, was die Jahreszeiten zu bieten haben. Die Lebensmittel kommen von Produzenten, die die beiden gut kennen, und werden immer komplett verarbeitet. Eine Beschränkung, die sich das Duo auferlegt hat – aus Überzeugung. Denn Regionalität, Zero Waste und der persönliche Kontakt zu den Herstellern sind für Thomas und Sophie nicht mehr wegzudenken in ihrem Arbeitsleben. Wir haben sie getroffen und mit ihnen über nachhaltige Gastronomie gesprochen.

Regionalität, zero waste und der persönliche kontakt zu den produzenten ist für Sophie und Thomas der inbegriff von nachhaltigkeit.

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Die Idee: wie ein Traum Wirklichkeit wurde.

Dass er einmal Koch werden möchte, wusste Thomas schon als kleiner Junge. Und das nicht irgendwo, sondern in seinem eigenen Restaurant. Kompromisslos verfolgte der heute 35-Jährige seinen Lebenstraum und nun steht er in einem Sternerestaurant am Herd. „Ich hatte nie einen anderen Berufswunsch, wollte nie etwas anderes machen“, sagt Thomas. Diesen Satz spricht er so leidenschaftlich aus, dass klar wird: Dies ist kein vorgefertigtes Pressestatement. „Es gibt alte Schulhefte von mir, in die ich damals aus Langeweile während des Unterrichts eine Küche gekritzelt habe. Und die sieht ziemlich genauso aus wie unsere im 100/200.“

Sophie Lehmann und Thomas Imbusch stehen in der Küche des 100/200 kitchen.

Mit dem 100/200 kitchen haben Sophie Lehmann und Thomas Imbusch ein außergewöhnliches Restaurant geschaffen. Nachhaltigkeit ist hier keine Floskel, sondern eine Herzensangelegenheit.

Bevor er 2018 das 100/200 kitchen eröffnete, kochte Thomas im Bremer Park Restaurant, im Victor’s Fine Dining by Christian Bau in Perl-Nennig (drei Michelin-Sterne) und war zuletzt Küchenchef in Tim Mälzers Off Club in Hamburg. Die Planungen zu seinem Restaurant hatten schon ordentlich Fahrt aufgenommen, als Sophie dazukam. „Ich war gerade dabei, Deutschland zu verlassen und ins Ausland zu gehen, als mir jemand von diesem besonderen Konzept in Hamburg erzählte. Das hat mich so beeindruckt, dass ich Thomas und seine Pläne unbedingt kennenlernen wollte“, sagt die 31-Jährige, die im 100/200 kitchen die Rolle der Restaurantleiterin und Sommelière innehat. Nach einem ersten Treffen war klar, dass die beiden das Vorhaben gemeinsam umsetzen würden. Heute haben sie nicht nur zusammen ein Restaurant, sondern auch eine Familie.

Blick aus dem Fenster auf die Elbbrücken. Blick auf die Küche von oben.

Lehmann und Imbusch setzen ihr nachhaltiges Konzept ganzheitlich um. Dies spiegelt sich natürlich auch in der Gestaltung der Ausstattung wider – sowohl im Gastraum als auch in der Küche.

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Die Location: urbane Romantik im Industriegebiet.

Die Geschichte von Thomas ist nicht die eines Kochs, für den plötzlich die Zeit reif war für ein eigenes Restaurant. Der Übergang vom Angestellten zum eigenen Chef war fließend. Im Laufe der Jahre hatte er sich immer wieder verschiedene Locations angesehen. Nie war etwas Passendes dabei. Und doch war eins für ihn schon immer klar: Wenn er einmal ein Restaurant eröffnen würde, dann eines mit einer Kücheninsel mitten im Gastraum. „Die Bedingungen für diese Idee findet man natürlich nicht jeden Tag“, sagt er und lacht. Dann aber stieß er auf das Gebäude am Brandshofer Deich 68 im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Eine Art Industrieloft mit großen Fensterfronten und genug Platz, um seinen Traum von einem hochklassigen Restaurant zu verwirklichen. „Alle haben uns vorher gewarnt und gesagt, es würde in dieser Lage nicht funktionieren“, erinnert sich Sophie und lächelt dabei Thomas an. Dass sich der Glaube an ihr Konzept gelohnt hat und ihre Kritiker falschlagen, zeigen die Auszeichnungen: zwei Michelin-Sterne sowie ein grüner Stern für eine nachhaltige Küche.

Thomas Imbusch und sein Team in Aktion in der Küche.

„Was bedeutet nachhaltige Ernährung im urbanen Raum?“ – über mögliche Antworten auf diese Frage sprachen Sophie Lehmann und Thomas Imbusch bei einem THE SOONER NOW Panel im 100/200 kitchen. Und natürlich versorgten die beiden ihre Gäste auch mit Kleinigkeiten aus ihrer Küche.

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Das Konzept: nachhaltige Gastronomie, bis ins kleinste Detail durchdacht.

Nachhaltige Gastronomie – fast ausschließlich beschränkt sich dieser Begriff nur auf die Lebensmittel, die in einem Restaurant den Gästen serviert werden. Thomas und Sophie denken ganzheitlich. „Du kannst heutzutage kein Unternehmen führen, wenn du es nicht als eine Selbstverständlichkeit und als deine Pflicht ansiehst, durch und durch nachhaltig zu arbeiten“, sagt Thomas bestimmt. „Aber in der Gastronomie wird zu oft Mikroregionalität als nachhaltig verstanden, nur stimmt das nicht, denn es gehört viel mehr dazu.“ Laut Sophie und Thomas geht es darüber hinaus darum, Mitarbeiter nicht nur als Arbeitskraft zu sehen, Lebensmittel, etwa ein Tier, ganzheitlich zu verarbeiten, und um die hochwertige sowie verantwortungsbewusste Produktion der Restaurantausstattung.

Ein Mitarbeiter des 100/200 kitchen kocht in der Küche. Die Auszeichnung des Guide Michelin – eine Art Pokal bestehend aus Besteck.

Die Gäste können die Kreation der Speisen unmittelbar erleben. Denn die Küche befindet sich mitten im Gastraum. Das Konzept und das Menü sind so außergewöhnlich, dass das 100/200 kitchen 2022 sogar mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet worden sind.

Je stärker sich Thomas und Sophie mit dem Thema nachhaltige Gastronomie auseinandersetzten, desto schärfer wurde ihr Blick für die Details. Die Suche nach passenden Partnern ist oft langwierig und teilweise mühsam. „So gibt es etwa Biobauernhöfe, die ihr Saatgut nicht selbst erzeugen und es über einen Händler beziehen. Dieser wiederum gehört dann zu den größten Nahrungsmittelkonzernen“, erklärt Sophie. „Das sind Dinge, die durchblickst du erst, wenn du erfahren bist.“ Ebenso wichtig wie die Wahl der Produzenten ist, dass im 100/200 kitchen keine industriell erzeugten Lebensmittel eingesetzt werden. „Nehmen wir das Beispiel Fruchtsoßen: In der Gastronomie werden häufig Fertigprodukte verwendet, denn diese sind genormt und damit ist ihr Geschmack immer gleich“, sagt Thomas. Deswegen entwickelt er Rezepte, mit denen er und sein Team in der Küche arbeiten und Speisen selbst vorproduzieren können.

Die nachhaltige Philosophie findet sich außerdem in der Gestaltung der Menüs wieder. Dabei geht es nicht darum, was auf dem Teller landet, sondern wann. „Wir haben irgendwann gemerkt, dass wir unsere Menüs an den Jahreszeiten ausrichten müssen“, sagt Sophie. „Im Sommer gibt es so viel Obst und Gemüse, da macht es überhaupt keinen Sinn, ein Tier zu schlachten.“ Das Rindfleisch, das im Frühling seinen Weg auf die Karte findet, stammt übrigens gewissermaßen aus eigenem Bestand. Thomas und Sophie besitzen insgesamt sieben Kühe, die in Heidenau (Nordheide) weiden. Wenn diese einmal geschlachtet werden, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Fleischstücke „from nose to tail“ serviert werden. Also dass die Gäste natürlich auch Lunge, Niere und Zunge kredenzt bekommen. „Unsere Gäste sollen sich bewusst auf das Erlebnis bei uns einlassen – dazu gehört, vorher nicht zu wissen, was es gibt“, sagt Sophie. „Wir kochen naturnah und haben selbst oft keine Ahnung, was wir geliefert bekommen. Aber jeder kann sich natürlich darauf verlassen, dass hier keine Amateure am Werk sind – wenn du uns nicht vertraust, dass es lecker ist, wem denn dann?“

Ein Mitarbeiter füllt mit einem Löffel Soße auf verschiedene Teller.

Bei einem Panel von THE SOONER NOW im 100/200 kitchen kamen die Gäste auch kulinarisch auf ihre Kosten. Denn Thomas Imbusch und sein Team machen alles selbst und verwenden keine verarbeiteten Produkte.

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Die Ausstattung: nachhaltig durch Langlebigkeit.

Diese Worte machen klar: Thomas und Sophie reden nicht nur, sie machen. Das Duo steht voll und ganz hinter ihrem Konzept und lebt es mit Leidenschaft. Das spiegelt sich auch in der Auswahl der Ausstattung wider. Fokuspunkt des Restaurants ist der maßgefertigte Molteni-Herd. Er ist zu 100 Prozent Handarbeit und eine Sonderanfertigung – individuell angepasst auf die Bedürfnisse von Thomas und seinen Angestellten. „Der Herd geht eigentlich nur an und wird bis zu 200 Grad heiß, es ist also ein elementares ‚heiß‘ oder ‚nicht heiß‘“, erklärt der Sternekoch. Die Anschaffung eines so teuren Stücks bedeutet für die Restaurantchefs ebenfalls Nachhaltigkeit. „Das ist Handwerkskunst, von der du ein Leben lang etwas hast. Der Herd ist so robust, dass nicht ständig ein Techniker kommen muss, um Kleinigkeiten auszutauschen“, sagt Sophie.

Langlebigkeit – das war Thomas und Sophie auch bei der Auswahl ihres Mobiliars wichtig. Ähnlich wie in der Küche sind viele Stücke Maßanfertigungen. Die Tische waren in ihrem vorherigen Leben Baumstämme. Das bedeutet: Sie sind als Ganzes zerteilt und anschließend zu langen Tafeln verarbeitet worden. Die Stühle kommen aus einer Manufaktur, in der Thomas und Sophie persönlich vor Ort waren. Bevor sie etwas anschaffen, schauen sie sich die Hersteller genau an und prüfen ihre Produkte genau. „Ich möchte zeigen, dass man sozial nachhaltig arbeiten kann“, sagt Sophie. „Es ist Luxus, sich damit zu beschäftigen, Essen und Trinken zu zelebrieren und damit Geld zu verdienen. Also ist es meine gottverdammte Pflicht, das so gut und ganzheitlich wie möglich zu machen“. Thomas ergänzt: „Zu diesem Ansatz gehört mehr, als nur lecker und instagrammable zu kochen.“

Eingedeckte Tische im 100/200 kitchen. Eine rote Kaffeemaschine, die vor einer Art Gewächshaus für Kräuter steht.

Bei der Ausstattung ihres Restaurants war es Sophie Lehmann und Thomas Imbusch wichtig, qualitativ hochwertige Materialien zu verwenden. Denn diese sind langlebig und damit besonders nachhaltig.

Jeder kann sich natürlich darauf verlassen, dass hier keine amateure am werk sind - wenn du uns nicht vertraust, wem denn dann?

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Ein Portrait von Sophie Lehmann und Thomas Imbusch.

Über Thomas Imbusch und Sophie Lehmann.

Thomas Imbusch, geboren 1987, und Sophie Lehmann, geboren 1991, eröffneten 2018 gemeinsam das 100/200 kitchen im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Zuvor arbeiteten und kochten die beiden in verschiedenen Sternerestaurants. Wer zu Thomas und Sophie ins Restaurant kommt, erlebt Gastgeber, die sich voll und ganz ihrer Passion verschrieben haben. Mittlerweile konzentriert sich das Paar nicht mehr nur auf den Gastbetrieb, sondern bildet in der hauseigenen Gastronomie auch Nachwuchskräfte aus.

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Fotos: Janine Meyer (4, 11, 12, 14, 15, 16), Kevin Fuchs (2, 5, 10, 13), René Flindt (1, 3, 6, 7, 8, 9).